Das "Ethik-Eck": Die Sache mit dem Führerschein

Mein Vater will mit 80 noch Autofahren

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Die Frage lautet diesmal: „Mein Vater ist schon über 80. Aber Autofahren will er immer noch. In meinen Augen wird das aber immer unverantwortlicher. Er gefährdet andere Verkehrsteilnehmer, weil er schlecht sieht. Ist es ethisch geboten, dass er jetzt besser den Führerschein abgibt?“


Das Leben verändernd
Es gibt in Deutschland keine Regelung, die vorsieht, dass Menschen ihren Führerschein abgeben müssen oder sich prüfen lassen müssen, wenn sie älter werden. Den Führerschein kann man freiwillig abgeben oder ein Gutachten bei der Behörde anfordern, die feststellt, ob man noch fahrtüchtig ist. Je nach Region gibt es als Anreiz zum Abgeben des Führerscheins kostenlose Fahrkarten für den Nahverkehr.


Bernadette Wahl
hat Theologie und
Religionspädagogik studiert,
ist systemische Beraterin
und arbeitet für das
Bistum Fulda in der
Citypastoral.

Solange der Vater geschäftsfähig und gesund ist, kann man ihm das Autofahren nicht verbieten. Die Sorge um seine Fahrtüchtigkeit kommt aber nicht von ungefähr, denn er sieht immer schlechter. Vielleicht hat der Vater schon ein paar Mal beim Ausparken die Mauer gestreift oder einen Zebrastreifen übersehen. Ja und vielleicht hat auch der Augenarzt schon einmal auf die Gefahr im Verkehr hingewiesen. Wenn das so ist: Ja, dann es ist ethisch dringend geboten, den Führerschein abzugeben.
Dann kommt der schwierige Teil: Das Gespräch mit dem Vater, dem man lieber aus dem Weg gehen würde. Es ist verständlich, dass es gar nicht leicht ist, so viel Freiheit im Alter aufzugeben oder eine vermeintliche Schwäche zuzugeben. Aushalten kann man die Situation aber auch nicht mehr. Marshall B. Rosenberg entwickelte ein für solche Fälle hilfreiches Handlungskonzept der „Gewaltfreien Kommunikation“. Ein Gespräch mit dem Vater könnte nach seinem Ansatz so ähnlich ablaufen:
Zuerst wird das beobachtete Verhalten beschrieben. Also Erfahrungen, die uns zu dem Problem geführt haben: „Du hast vorgestern, als wir Einkaufen waren, die Nachbarin am Zebrastreifen übersehen.“ Danach werden die Emotionen und Gefühle beschrieben, die in den Erfahrungen hochkommen: „Papa, ich bekomme Angst um dich, dass dir was passiert. Und vor allem um die Kinder, die immer bei euch auf der Straße spielen.“ Und zum Schluss wird ein Wunsch geäußert: „Ich möchte, dass du nochmal zum Augenarzt gehst und deine Fahrtüchtigkeit prüfen lässt.“
Genau wie das Erhalten des Führerscheins ist das Abgeben des Führerscheins eine massive Veränderung im Leben des Vaters. Es wird im Alter noch mehr solcher Herausforderungen geben. Es ist gleichzeitig wahnsinnig anstrengend und wahnsinnig schön, einen geliebten Menschen in diesen Prozessen zu begleiten und zu unterstützen.

 

Mehr Sprechen
Wirklich schwierig – für alle, Vater und Kinder!
Wenn jemand über 80 ist, hat er ja schon einige Abschiede und Verluste hinter sich. Die Gesundheit wird unzuverlässig, Beziehungen brechen ab. Das Älterwerden kann hart sein, der Verlust der Autonomie bitter: abhängig werden, fragen müssen, Hilfe brauchen, nicht mehr alleine können.


Ruth Bornhofen-Wentzel
war Leiterin der Ehe- und
Sexualberatung im Haus
der Volksarbeit in Frankfurt.

Da ist es schon schwierig, selbst zu erkennen, dass es soweit sein könnte, etwas freiwillig aufzugeben.
Das Autofahren ist manchmal wie eines der letzten Zeichen der Unabhängigkeit; ich kann alleine entscheiden, über Tun, Ziel und Zeit. Darauf zu verzichten, macht den Lebensradius oft deutlich kleiner. Besonders wenn man nicht mehr gut zu Fuß ist und nicht mehr sicher auf dem Fahrrad.
Und war das Autofahren nicht auch ein Symbol für Dazugehören, für Männer dieser Generation auch ein Teil ihrer Rolle im Mann-Sein?
Und für die Kinder? Die sehen oft schärfer, was nicht mehr geht. Und alle Sorgen sind berechtigt. Klar, es geht noch von A nach B, aber die Aufmerksamkeit? Und die Schnelligkeit der Reaktionen, was geschieht bei einer plötzlichen Gefahr?
Haben sie nicht auch Verantwortung und würden sich berechtigt Vorwürfe machen, wenn dem Vater oder einem anderen etwas passiert?
Dabei sind das ja nicht nur sachliche Fragen. Sondern auch eine wesentliche nach der Beziehung zwischen Vater und Sohn oder Tochter.
Und da kommt vieles andere ins Spiel: Wie ist das Verhältnis sonst?
Wird Hilfe angeboten und genommen, wie lässt sich über Einschränkungen und Veränderungen sprechen? Bei Wohnen, Gesundheit, Einkaufen?
Wie sind die Charaktere sonst? Die ganze gemeinsame Geschichte, die ganze Biografie ist wieder da. Die Erziehung, das Familienleben? Eher starr, eher herzlich? Darf man Vertrauen zueinander haben?
Oder ist es auch eine Frage der Macht? Macht, die die eine Generation abgibt, und die nächste beansprucht?
Es sind Fragen, auch selbstkritische, an alle Beteiligten. Und keiner hat einfach Recht.
Und dann kommen hoffentlich die Gespräche, möglichst diskret, möglichst freundlich, möglichst klar.
Vielleicht ist manchmal ein Eingreifen nötig, wenn sich eine Demenz bemerkbar macht.
Aber sonst kann diese Sorge sich einreihen in die auch dabei nötige allmähliche Veränderung der Verhältnisse.
Mehr Sorge und Angebote bei den Kindern, mehr Hilfe und Trost beim alten Vater, und bei allen: mehr Sprechen über Unsicherheit und wie machen wir’s am besten?
Und die Chance, dass sich die Beziehung verändert, herzlicher und fürsorglicher wird.

 

Eigenständig bleiben
Laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts („Unfälle von Senioren im Straßenverkehr“) waren im Jahr 2020 insgesamt 68 853 Menschen der Generation 65 plus mit ihrem PKW, Fahrrad oder als Fußgänger in Unfälle involviert, in denen Personen zu Schaden gekommen sind.


Dr. Stephanie Höllinger
ist Assistentin am
Lehrstuhl für Moraltheologie
an der Universität Mainz.

Damit bildet die Gruppe der Senior:innen nur 14,6 Prozent aller an Unfällen beteiligten Personen. Alle übrigen Altersgruppen bleiben im Vergleich zu den über 65-Jährigen deutlich gefährdeter. Daneben zeigen die Ergebnisse allerdings auch, dass zirka 68 Prozent der 65- bis 74-jährigen Menschen, die 2020 einen Unfall mit ihrem Auto hatten, diese durch eigene Fehler verursacht haben.
Den über 74-Jährigen wurden dieser Untersuchung zufolge sogar drei von vier Unfällen angelastet. Sind ältere Personen also in Unfälle verwickelt, gelten sie in vielen Fällen als deren Verursacher.
Ihre Sorge deckt sich daher mit der Statistik. Doch: Die Zahlen allein reichen als Grund nicht aus, um Ihren bereits 80-jährigen Vater zur sofortigen Abgabe seines geliebten Scheins zu bewegen. Obzwar empirische Ergebnisse eine bedeutende Rolle für die ethische Reflexion besitzen können, ist doch der Blick auf den Einzelfall freizuhalten, hat ein Urteil stets die Umstände zu beachten. Dabei haben wir uns Fragen zu stellen wie: Für welche Wege nutzt der Vater sein Auto? Möchte er damit zum Bäcker fünf Straßen weiter oder fährt er lange Strecken auf der Autobahn? Meidet er eher den Berufs- und Stadtverkehr oder ist er gerade zu den Stoßzeiten unterwegs? Und wie steht es um seinen Gesundheitszustand? Als Problem nennen Sie seine geringe Sehkraft. Vielleicht kann schon ein Augenarzt weiterhelfen? Oder zielen Ihre Bedenken doch eher darauf ab, dass sein Reaktionsvermögen abgenommen hat beziehungsweise seine Bewegungsabläufe einschränkt sind?
Abhängig von den Antworten kann ethisch jeweils ein recht anderer Umgang geboten sein:
So mag die Sehschwäche schon durch eine Brille oder eine andere Behandlung behoben werden. Womöglich können auch Fahrassistenzsysteme oder Fahrsicherheitstrainings mit spezieller Ausrichtung auf die älteren Bevölkerungsgruppen eine wichtige Unterstützung darstellen.
Wo das Autofahren aber zur übermäßigen Gefährdung für den gesamten Straßenverkehr wird, bieten sich vielleicht Bus- und Bahnverkehr oder Fahrtendienste als geeignete Alternativen an. Mobilität bedeutet für viele Unabhängigkeit und Eigenständigkeit trotz des hohen Lebensalters. Wie diese Eigenständigkeit gewahrt werden kann, ohne andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden, lässt sich nur nach Abwägung der Umstände beziehungsweise nach Prüfung des Einzelfalls beantworten.