Frank Richters neues Buch
Oasen im Osten
Foto: Kerstin Mauersberger
Eine Treppe im Hauptzellentrakt – sie wurde von den Inhaftierten als „Himmelsleiter“ bezeichnet.
Wenn das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen in der deutschen Öffentlichkeit thematisiert wird, darf der Hinweis auf den Kniefall von Warschau von Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 nicht fehlen. Nach dieser Geste, so heißt es, hätten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen verbessert.
Diese historisch-politische Einordnung ist nicht die einzige ihrer Art, in der die Existenz der DDR ignoriert wird. Aber es ist die, die mich am meisten empört. Ein Blick auf die Landkarte und in die Geschichtsbücher genügt, um zu erkennen, dass es sich bei der deutschen Grenze zu Polen über 40 Jahre lang um eine Grenze der DDR handelte. Ich war gewiss nicht der einzige DDR-Bürger, der sich ideologiefrei um die Nähe und um die Freundschaft mit den Polen bemüht hat.
Von einem ganz besonderen, einem hochprominenten Bürger habe ich zum ersten Mal erfahren, als ich die Gedenkstätte „Stasi-Gefängnis“ in Bautzen besuchte. Georg Dertinger war der erste Außenminister der DDR. Nachdem er in Ungnade gefallen und in einem vom Ministerium für Staatssicherheit inszenierten Geheimprozess verurteilt worden war, saß er über zehn Jahre lang im Zuchthaus in Bautzen. Nach seiner Entlassung – wenige Monate vor seinem Tod – sprach er sein politisches Testament auf Band. Christian, einer seiner Söhne, übergab mir die Aufnahme. Georg Dertinger spricht mit klarer Stimme. Er formuliert druckreif.
Er bekennt sich zur Notwendigkeit der Versöhnung mit Polen. Er erläutert seine Mitwirkung am Zustandekommen des Görlitzer Vertrages im Jahr 1950, in dem die Grenze zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen vereinbart wurde. Er engagierte sich – so sagt er selbst –, nicht weil Stalin es befahl, sondern weil er die Aussöhnung politisch und persönlich ersehnte. Nachdem er den Sowjets und der Stasi immer unbequemer geworden war, verhaftete, folterte und verurteilte man ihn. Willkürlich. Georg Dertinger hat für seine Überzeugungen teuer bezahlt. Seine Frau geriet in Sippenhaft. Seine Söhne wurden ihren Eltern entzogen. Das Erinnern an ihn in der Gedenkstätte Bautzen ist eine Oase des Nicht-Vergessens.
Frank Richter
Gegen den Strich
Als mir vorgeschlagen wurde, am Projekt „Oasen im Osten“ mitzuwirken, runzelte ich zunächst die Stirn. Es gibt verschiedene Begriffe, mit denen die Gedenkstätte Bautzen charakterisiert wird: als Erinnerungsort oder ein Ort der Aufarbeitung. Als eine Oase hatte ich ihn bis dato noch nicht gesehen. Seit 1994 ist der ehemalige „Stasi-Knast“ Bautzen II eine Gedenkstätte. In den Zellen und Fluren des Hafthauses erinnert sie an die Menschen, die hier zu Unrecht inhaftiert waren.
Ein Schicksal, welches hier dokumentiert ist, ist das von Georg Dertinger. Der erste Außenminister der DDR fällt 1952 in Ungnade, weil er von seinen Forderungen nach einem vereinten, neutralen Gesamtdeutschland nicht ablässt. Damit steht er den politischen Interessen der Sowjetunion und der SED-Führung entgegen. Zehn Jahre später wird der schwerkranke Strafgefangene mit der Nummer 1068/56 begnadigt und aus Bautzen II entlassen. Bis zu seinem Tod im Januar 1968 arbeitet er als Lektor beim St. Benno Verlag.
Seit seiner Verurteilung gilt Dertinger in der DDR als Unperson. Seinen Tod melden die DDR- Medien nur mit ein paar Zeilen. Auch im Westen Deutschlands erfährt Dertinger keine Würdigung. Er gilt als Steigbügelhalter, der willfährig an der Einbindung der Ost-CDU ins SED-Blockparteiensystem mitwirkte. Wirken und Schicksal Dertingers gerieten lange Zeit in Vergessenheit. Dass Dertingers Leidensort heute ein Ort historischen Lernens ist und sein Schicksal hier eine Würdigung erfährt, dürfte ihm wohl posthum innere Ruhe und Genugtuung geben.
Schon seit geraumer Zeit finden auch die nachfolgenden Generationen der Kinder und Enkel von Zeitzeugen ihren Weg nach Bautzen, um das eigene Schicksal in die Zeitläufe einzuordnen. Die Gedenkstätte Bautzen ist ein besonderer Ort. Es erfüllt mich seit über 25 Jahren mit großer Zufriedenheit, Teil eines Teams zu sein, das mit seiner Arbeit für Menschenwürde, Freiheit, Recht und Toleranz eintritt und aufzeigt, welche Gefahren drohen, wenn diese Grundwerte verloren gehen. Insbesondere die Kontakte zu ehemaligen Gefangenen und ihren Angehörigen sind eine wertvolle Bereicherung meines Lebens. Gegen den Strich gedacht kommt die Gedenkstätte Bautzen „in der hiesigen Wüste der Geschichtsvergessenheit“ also durchaus einer „Wasserstelle“ gleich. Sie ist eine Oase, nicht des Wohlfühlens, aber der faktenbasierten Dokumentation in einer Welt der „Fake News“.
Silke Klewin
Schöne Stadt an der Spree
Es war im März 1961. Ich kam zum ersten Mal nach Bautzen, genauer gesagt: nach „Bautzen II“. Es war kalt, es war feucht, doch ich spürte es kaum, denn ich war voller Aufregung und voller ängstlicher Erwartungen. Ich sollte und wollte nach acht Jahren Trennung meinen Vater Georg Dertinger im Gefängnis wiedersehen. Das Wiedersehen war für mich ein Jubelfest und Bautzen wurde der glücklichste Ort auf meiner Welt. Bis zur Entlassung meines Vaters im April 1964 konnte ich ihn noch mehrmals besuchen. Ich glaube, bei diesen Begegnungen wurde mein Vater mein Freund.
Mein Vater Georg Dertinger wurde auf Betreiben Walter Ulbrichts und mit Erlaubnis aus Moskau wegen angeblicher Sabotage, Spionage und Hochverrats von der Stasi verhaftet, in Hohenschönhausen gequält, verhört und durch die Androhung der Sippenhaft seiner ganzen Familie erpresst. Nachdem er im Juni 1954 zuerst zum Tode, danach, auf Intervention aus Moskau, zu lebenslänglicher Haft und nach weiterem Einspruch aus Moskau zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, war er zunächst bis August 1956 in Brandenburg-Görden inhaftiert und kam von dort aus mit dem ersten Transport in das von der Stasi eingerichtete Gefängnis Bautzen II. Am 21. April, nach über elf Jahren Haft, wurde er infolge eines „Gnadenerlasses“ aus dem Zuchthaus entlassen. Bautzen, du schöne Stadt in einer wundervollen Landschaft!
Damals, als ich dich kennenlernte – ich war 16 Jahre alt –, warst du grau und ruinös, wie fast alle Mittelstädte in der DDR, und (mir) völlig unbekannt. Auf dem Weg zum Zuchthaus in der Weigangstraße 8A kam ich an schönen Gründerzeit-Villen, an mittelalterlichen Mauern und Kirchen vorbei. Mit der Zeit entwickelte ich ein Gefühl für den sorbisch gefärbten Alltag, für die besondere Sprache und für deine Menschen. Wegen meines römisch-katholisch gefärbten Glaubens interessierte ich mich für deinen herrlichen Dom Sankt Peter, der damaligen Bischofskirche des Bistums Meißen. Otto Spülbeck, genannt der Prächtige, war damals Bischof.
Im Mai 1963, nach bestandenem Abitur und nach einem Besuch bei meinem Vater, habe ich mich zum Theologiestudium in Erfurt einschreiben lassen. Bautzen, du hast mir Orientierung und Hoffnung gegeben. Hoffnung habe ich immer noch, nur die Richtung hat sich geändert ... Jetzt bin ich „ein wenig“ älter geworden, aber die Treue halte ich dir noch immer. Ich bin mehrmals im Jahr in deinen Mauern, oft in der Gedenkstätte; ich beteilige mich an den Veranstaltungen des Bautzen-Komitees und besuche die von der Friedich-Ebert-Stiftung organisierten Bautzen-Foren. Liebes Bautzen, ich vertraue deiner Zukunft und deinem Langmut und bin
dein Christian Dertinger
Das Buch
Frank Richter (Herausgeber): Oasen im Osten – Entdeckungen in den neuen Ländern;
St. Benno Verlag; ISBN 978-3-7462-6787-6; 16,95 Euro
Sie erhalten das Buch auch bei Vivat (Bestellnummer 1067876)
Buchpräsentationen mit Lesung
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Buchpremiere: 1. Oktober, 20 Uhr, Theaterkahn Dresden
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14. Oktober, 19 Uhr, Propsteigemeinde Leipzig
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15. Oktober, 19 Uhr, Kolpingsfamilie Greiz
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18. Oktober, 18 Uhr, Gut Gödelitz bei Döbeln
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20. Oktober, 19 Uhr, Ev. Stadtkirche Merseburg
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21. Oktober, 19 Uhr, Kath. Gemeinde Pirna
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25. Oktober, 18 Uhr, Ev. Kirche Schmirma
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5. November, 19 Uhr, Kath. Gemeinde Marienberg/Erzgebirge
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14. November, 18.30 Uhr, Kath. Gemeinde Dresden-Pieschen