Ein System für mehr Sicherheit
Fotos: Andreas Hüser
Was tut das Erzbistum Hamburg, damit Missbrauch und sexuelle Gewalt in der Kirche verhindert werden können? In einem Hirtenwort im vergangenen Jahr hat Erzbischof Stefan Heße einen jährlichen Tätigkeitsbericht über die vorbeugenden Maßnahmen (Prävention) und Eingriffe in Verdachtsfällen (Intervention) sowie das Vorgehen nach einem erfolgten Missbrauch angekündigt. Den ersten dieser Berichte hat Generalvikar Sascha-Philipp Geißler jetzt in einer Pressekonferenz vorgestellt.
Dieser Bericht, der auch im Internet veröffentlicht ist, bezieht sich nicht nur auf ein Jahr, sondern auf zwölf Jahre seit 2011. In dieser Zeit ist im Erzbistum Hamburg ein System von Maßnahmen zur Missbrauchsprävention und -aufarbeitung aufgebaut worden. „Dazu haben wir auch Grenzverletzungen, Übergriffe und Machtmissbrauch gegenüber allen schutzbedürftigen Personengruppen in unseren Einrichtungen im Blick“, so der Generalvikar.
„Grenzverletzungen“ sind etwa Berührungen oder Zutraulichkeiten – Küsschen, Umarmung, Koseworte –, die der andere Mensch nicht will. Das kann unbeabsichtigt passieren. Bei absichtlichem, wiederholten Verhalten dieser Art spricht man von „sexuellem Übergriff“. „Sexueller Missbrauch“ dagegen ist die strafbare Handlung, Sex oder sexuelle Gewaltakte mit Kindern. Relativ neu im Blick ist der Machtmissbrauch im geistlichen Bereich, etwa, wenn Menschen durch Seelsorger manipuliert oder in ihrer Freiheit beschränkt werden.
Einstweilen aber steht der sexuelle Missbrauch im Vordergrund. Die Last dieses Erbes liegt schwer auf der katholischen Kirche bis in ihre kleinsten Unterorganisationen. Erzbischof Stefan Heße: „Mit jeder neu vorgestellten Studie aus einer deutschen Diözese wird uns vor Augen geführt, dass über Jahrzehnte weggeschaut und den Betroffenen, die sich trauten zu sprechen, nicht geglaubt wurde.“
Das soll anders werden. Mehr Sicherheit für Schutzbefohlene: Die Stabsstelle Prävention setzt dabei auf mehrere Wege.
140 00 Personen wurden seit 2011 geschult
Erstens auf Schulungen: Jeder, der im Erzbistum Hamburg tätig ist, muss an einer Schulung teilnehmen. 16 Beauftragte führen diese Schulungen durch. Sie informieren darüber, wie sexueller Missbrauch geschieht, wie die Täter vorgehen und wie im Verdachtsfall zu reagieren ist. Seit 2012 wurden mehr als 14 000 Personen geschult, die meisten davon Ehrenamtliche.
Jede Einrichtung im Bistum – einschließlich Schulen und Verbände – muss ein eigenes „institutionelles Schutzkonzept“ vorlegen. 120 solcher Konzepte liegen vor. Monika Stein: „Jedes dieser Konzepte ist anders als die aderen andere. Es muss zu einer Gemeinde in ihren Gegebenheiten passen.“
Das Vorgehen bei einer Fallmeldung ist im Detail festgelegt – mit Anhörung des Verdächtigten, Weiterleitung an die Strafverfolgungsbehörden, Meldung an das vatikanische „Dikasterium für die Glaubenslehre“.
Tatsächlich hat es auch in neuerer Zeit immer wieder Anzeigen gegeben – von 2011 bis Ende 2022 waren es 272. Im Laufe des Jahres 2022 sind laut Bericht 24 neue Meldungen eingegangen. Darunter waren fünf Vorfälle, die mehr als 50 Jahre zurückliegen. Einige Meldungen waren Vorwürfe von Mobbing und Machtmissbrauch. Aber immerhin sieben Anzeigen von 2022 betrafen sexualisierte Gewalt durch Menschen im kirchlichen Dienst.
Fast eine Million Euro an Betroffene gezahlt
Für den größten Teil der Missbrauchsfälle im Raum des Erzbistums Hamburg kommt die Prävention zu spät. Es sind Ereignisse, die oftmals Jahrzehnte zurückliegen, aber das Bistum noch heute beschäftigen. Das Erzbistum hat laut Präventionsbericht 877 141 Euro an Missbrauchsopfer gezahlt. Dazu kommen 11 815 Euro, die für Therapien und Versorgungen gezahlt werden, weil Missbrauch zu psychischen Krankheiten und weitreichenden Lebenseinschränkungen geführt haben.
Die Höhe dieser Zahlungen zur „Anerkennung des erlittenen Leids“ bestimmt jeweils eine Zentrale Koordinierungsstelle in Bonn. Deutschlandweit ist nicht nur die Entschädigung, sondern auch der Umgang mit dem Thema Missbrauch weitgehend durch Regelungen der Deutschen Bischofskonferenz geregelt.
Mit der „Aufarbeitung“ der zurückliegenden Missbrauchsfälle und ihrer erfolgten oder unterbliebenen Bearbeitung beschäftigt sich die „Aufarbeitungskommission Nord“ der Bistümer Hamburg, Osnabrück und Hildesheim. Auch der „Betroffenenrat Nord“ setzt sich aus Betroffenen der drei Bistümer zusammen.
Von diesem Betroffenenrat kam allerdings deutliche Kritik. Kurz vor der öffentlichen Vorstellung des Tätigkeitsberichts monierte der Rat in einer Presseerklärung, dass die Betroffenen an der Erstellung und Präsentation des Berichts nicht beteiligt wurden. Grundsätzliche Kritik üben die Betroffenen auch an der organisatorischen Einbettung der „Stabsstelle Prävention“ in das Generalvikariat des Erzbistums unter Leitung des Generalvikars. „Aufklärung und Aufarbeitung brauchen größtmögliche Unabhängigkeit – die Leitungsfunktion und die Plausibilitätsbewertung gehören nicht in die Hände der Dienstvorgesetzten mutmaßlicher Täter. Hier muss das Erzbistum dringend nachsteuern.“ In sieben Punkten fordert der Betroffenenrat unter anderem eine unabhängige Ombudsstelle, eine Missbrauchsstudie für Hamburg und Schleswig-Holstein und die Veröffentlichung von Täternamen nach Vorbild des Bistums Aachen.
Generalvikar Geißler: „Es ist für mich selbstverständlich, dass der Betroffenenrat sich äußert. Dem stellen wir uns auch.“ Es habe sich so entwickelt, dass die Stabsstelle im Generalvikariat angesiedelt sei. „Und diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen.“ Einige Funktionen müssten allerdings in der Struktur des Bistum bleiben, etwa die Regelung der Intervention. Denn für sie sei nach der geltenden Ordnung der „Ordinarius“ zuständig, also der Bischof.
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