Nach dem Umsturz durch Islamisten
Unter Syriens Christen wächst die Angst

Foto: Jean-Matthieu Gautier/KNA
Hoffen auf eine Zukunft in ihrer Heimat: Christen feiern Gottesdienst in der maronitischen Kathedrale Saint Elie in Aleppo.
Wie viele Christen sind heute noch im Land und wie geht es diesen Menschen unter den neuen Machthabern?
Experten schätzen, dass es heute nur noch 300.000 bis 500.000 Christen in Syrien gibt, von denen allerdings viele auf gepackten Koffern sitzen. Wie Sie wissen, betreue ich in Berlin rund 300 aus Syrien geflüchtete Christen, die alle, genau wie ich selbst, nach wie vor gute Kontakte zu den im Lande verbliebenen Menschen haben. Viele Syrer empfinden die Lage unter den neuen Machthabern als bedrohlich. Unter anderem weil dort vielerorts neben der neuen Landesfahne plötzlich die Fahne des Islam weht, also die Flagge, die bereits die Terroristen vom Islamischen Staat genutzt haben. Ich habe zwar anfänglich noch etwas Hoffnung gehabt, aber mittlerweile bin ich leider nicht mehr optimistisch. Ich befürchte sogar, dass Syrien über kurz oder lang christenfrei werden könnte.
Warum ?
Es sind einzelne Nachrichten, die zusammen ein besorgniserregendes Bild ergeben. So mussten seit dem Umsturz bereits einige Kulturinstitutionen und wissenschaftliche Einrichtungen ihre Arbeit einstellen. Beispielsweise darf das Orchester von Damaskus nicht mehr öffentlich auftreten. Die neuen Machthaber denken, klassische Musik gehöre nicht zur syrischen Kultur, sie sei des Teufels. In Syriens Hauptstadt soll außerdem ein alteingesessenes Theater zu einer Moschee umgebaut werden. Auch die Musikakademie von Aleppo, die sich unter anderem mit dem Einfluss christlicher Musik auf die syrische Volksmusik beschäftigt hat, darf nicht mehr arbeiten. Überall an den Universitäten werden jetzt die Studenten zum islamischen Gebet aufgerufen. Diese Gebete finden im öffentlichen Raum statt. Mein Eindruck ist: Die neuen Machthaber streben die Schaffung eines durch und durch islamisch geprägten Landes an. Sie betrachten alle Einflüsse abseits ihrer Religion als fremd und störend. Dabei ist Syrien seit jeher ein religiös und kulturell vielfältiges Land gewesen. Ich denke, diese Vielfalt geht nun verloren.

Einige Christen waren, vorsichtig formuliert, mit dem gestürzten Assad-Regime nicht unzufrieden, weil der Diktator Ihnen ein gewisses Maß an Schutz vor Verfolgung bot. Gab es an diesen Assad-Sympathisanten Racheaktionen?
Tatsächlich wurden im Rahmen des Umsturzes auch einige Christen, die mit dem Assad-Regime zusammengearbeitet haben, umgebracht. Das sind aber Einzelfälle, es war kein Völkermord, wie es ihn zuletzt unter dem Islamischen Staat gegeben hat. Auch ist es beileibe nicht so, dass alle syrischen Christen mit Assad sympathisiert haben. Richtig ist, dass viele Christen gut ausgebildet sind und oft nur deswegen für den Staat gearbeitet haben, weil sie woanders keine Möglichkeit hatten, ihrem Beruf nachzugehen. Man darf diese Menschen nicht, wie einige Islamisten es tun, als Handlanger von Assad betrachten. Die meisten Christen haben ohnehin nicht für das alte Regime gearbeitet. Trotzdem leben sie heute in Angst.
Bitte erklären Sie das näher.
Die Islamisten haben jetzt freie Hand in Syrien. Die Armee wurde zerschlagen. Es gibt keine Polizei mehr, an die Menschen sich wenden können, wenn es Konflikte gibt. Es gibt keine Verfassung. Syrien ist ein rechtsfreier, schutzloser Raum. Die Menschen sind auf den Willen oder die Willkür der herrschenden HTS-Milizen angewiesen. Und in den vergangenen Tagen ist es häufig vorgekommen, dass Dschihadisten Frauen, etwa in Aleppo und in Damaskus, aufgefordert haben, sich islamisch zu kleiden. Sie wurden aggressiv angewiesen, nicht nur ihre Haare zu bedecken, sondern sie sollten gleich ihr gesamtes Gesicht unter einem Niqab verstecken. Ein Niqab ist ein islamischer Schleier, bei dem nur noch die Augen freibleiben. Das sind Begegnungen, die bei vielen Frauen ein starkes Unwohlsein erzeugen. Sie haben nun Angst, das Haus zu verlassen.
In Bab Tuma, einem christlich geprägten Viertel in Damaskus, sollen HTS-Milizionäre christliche Händler bedroht haben und von ihnen eine Art Kopfsteuer erpresst haben. Was wissen sie darüber?
Mir wurden über Social Media Videos zugespielt, auf denen zu sehen ist, wie Islamisten christliche Geschäfte, in denen Alkohol verkauft wurde, mit Steinen angegriffen haben. Auch im Internet häufen sich Drohungen gegenüber Christen, möglichst rasch das Land zu verlassen. Das hinterlässt bei einem Volk, das bereits mehrere Pogrome erlitten hat, natürlich Spuren. In den ersten Tagen nach dem Umsturz hat es zudem, etwa in Homs, Latakia und Aleppo, Überfälle auf christliche Einrichtungen gegeben, bei denen Islamisten unter anderem Weihnachtsbäume angezündet haben.
Seither aber schützt das neue Regime angeblich die Kirchen vor Übergriffen.
Tatsächlich gab es seither keine direkten Angriffe mehr. Das Ganze läuft heute subtiler, eher auf der psychologischen Ebene ab. So marschieren seit einiger Zeit junge Milizionäre martialisch mit Lautsprechern durch christlich geprägte Dörfer und Stadtviertel und rufen der Bevölkerung islamische Parolen sowie Suren aus dem Koran zu und verteilen Flugblätter. Sorgen machen mir auch die neuen Lehrpläne für den Religionsunterricht an den Schulen, von denen mir eine Kopie vorliegt. Darin heißt es wörtlich, Juden und Christen seien Verirrte und von Gott geschlagene Gemeinschaften. Wie soll da noch religiöse Toleranz entstehen? Zudem befürchte ich, dass sich bald auch die wenigen christlich geführten Schulen im Lande diesen neuen Lehrplänen unterwerfen müssen und Muslimen etwa der Besuch christlicher Schulen untersagt wird.
Abu Mohammed al-Dscholani, früher al-Qaida-Krieger und heute Herrscher Syriens, hat den Christen aber zugesagt, sie könnten unbehelligt im Land bleiben und frei ihre Religion ausüben. Was halten Sie davon?
Niemand kann heute einschätzen, wie lange die Lage in Syrien noch einigermaßen stabil ist und Christen ihre Gottesdienste frei feiern dürfen. Es gibt etliche Islamisten innerhalb der HTS, denen der moderate Kurs al-Dscholanis ein Dorn im Auge ist. Erst vor wenigen Tagen wurden beispielsweise drei Christen aus der syrischen Basketballnationalmannschaft ausgeschlossen. Dort sollen nur noch Muslime spielen. Überall im Land besetzen Islamisten gerade die Schalthebel der Macht. Polizeianwärter werden auf den Koran und die Scharia eingeschworen. Die damit verbundenen Ungewissheiten und Risiken bleiben natürlich auch den Geflüchteten nicht verborgen. Daran, dass viele Syrer bald in ihre Heimat zurückkehren, glaube ich nicht. Eher das Gegenteil ist der Fall. Etliche Christen, die jetzt noch in Syrien leben und für eine Auswanderung das nötige Geld haben, werden wahrscheinlich bald ihre Heimat verlassen.