Zehn Mädchen auf großer Lebensfahrt

Foto: Andreas Hüser
Zehn sind sie insgesamt, sechs haben sich kürzlich getroffen: Marianne Guzy, Sabina Engler-Franz, Maria Sprenger-Yaman, Kathrin Hettwer, Martina May, Sylvia Pein-Dethloff (mit Pfadfinderhut in der Hand).
Sylvie wollte alles ganz ordentlich haben. So wie es sich für Pfadfinder gehört. Sie faltete ihren Schlafsack sorgfältig auseinander, dort wo andere Leute ein Bett und eine Matratze haben. Aber so etwas gab es auf der Tour nicht. Die Mädchen schliefen auf dem Heuboden eines Bauernhofes. Dann aber passierte es. „Der Boden brach ein, auf einmal lag ich halb über einer Kuh.“
Pfadfinderin sein, das ist nichts für empfindliche Gemüter. Nicht jedes neunjährige Mädchen möchte in Kohten schlafen, zentnerschwere Affen (Pfadfinder-Rucksäcke) auf Wanderungen tragen, im Morgengrauen vom Quieken der Schweine geweckt werden, die heimische Toilette mit einem Donnerbalken tauschen oder um zwei Uhr nachts zur Nachtwache geweckt werden – jemand muss ja Holz aufs Feuer legen.
„Wisst ihr noch? Unser Segelkurs auf dem Dümmer, und die Prüfung bei Flaute?“ „Das Pfingstlager in Süddeutschland?“ Wisst ihr noch? Viele Sätze fangen so an, wenn sich die Freundinnen wiedertreffen. Heute etwa sitzen sie zusammen in der alten Osdorfer Mühle. Alsterwasser und Wein stehen schon auf dem Tisch. Der Kellner bringt Teller mit Pizza und Salat. „Wisst ihr, dass ich meine erste Pizza mit euch gegessen habe?“ fragt Maria Sprenger-Yaman. „Das war auf der Wanderung nach Cuxhaven.“ Diese Wanderung ist mehr als 50 Jahre her – nur Süditaliener kannten Pizza.
Man konnte etwas erleben, wenn man Pfadfinderin im Stamm Jacques Marquette in Hamburg-Blankenese war. „Mein Vater war zuerst skeptisch“, erinnert sich Maria. Die Pfadfinderkluft erinnerte die Menschen an Militär und Uniformen der Hitlerjugend. Dass Mädchen allein auf Tour gingen, war anderswo auch nicht üblich. „Aber das waren Zeiten, in denen die Eltern uns mal allein gelassen haben und wir etwas mit den Freundinnen unternehmen konnten.“ Für die Beruhigung der Eltern sorgte auch, dass die Gruppe zu der katholischen Gemeinde Maria Grün gehörte – also konnte man darauf vertrauen, dass die Tochter gut aufgehoben war. Damals „brummte“ es rund um das Strohdachhaus der Gemeinde. Dort waren die Treffen. Waffeln wurden gebacken „ohne Ende“, sogar Lagerfeuer brannte im angemessenen Abstand zum Strohdach.
Für die Sicherheit sorgten die Mädchen übrigens selber.. Wisst ihr noch? „Beim allerersten Ausflug als ,Wichtel‘ hatte jede ein Überlebenspaket dabei“, erzählt Sylvia Pein-Dethloff. „Dazu gehörten Streichhölzer, die in Wachs getaucht waren, damit sie auch sicher brannten.“
» Beim ersten Ausflug hatte jede von uns ein Überlebenspaket dabei.«
Sylvia Pein-Dethloff
Die Frauen erzählen so, als ob das alles gestern geschehen wäre. Aber es war nicht gestern. Es war vor 55 Jahren. Die gemeinsame Pfadfinderzeit ging zuende, als alle ungefähr gleichzeitig ihren Schulabschluss machten. Dann gingen sie auseinander. Die zehn Pfadfinderinnen begannen verschiedene Ausbildungen oder Studien, ergriffen verschiedene Berufe. Einige gründeten Familien, andere nicht. Einige der Freundinnen sind heute Mütter oder Großmütter, andere leben allein. Einige sind mit 65 Jahren im Ruhestand, andere müssen noch ein Weilchen arbeiten.
Nach der Schulzeit hatten sich die Freundinnen aus den Augen verloren. Aber ausgelöscht war ihre Freundschaft nicht. Sabina Engler-Franz: „Vor 25 Jahren – damals war meine Tochter gerade geboren – ging ich einen Mantel kaufen. Und im Geschäft traf ich Malu.“ Die beiden waren sich einig: „Es wäre doch toll, wenn wir uns mal alle wiedersehen würden!“
Wer hat welche Adresse? Wer kennt noch eine Telefonnummer? (E-Mail gab es noch nicht.) Es dauerte nicht lange, und die Gruppe hatte wieder Kontakt. Die meisten wohnten noch im Raum Hamburg oder sogar noch in Blankenese. Seitdem treffen sich die Mädchen regelmäßig. Zwar sind sie nicht mehr mit Affen und Pfadfinderhut unterwegs. Aber das „Unterwegs-Sein“ bei Radtouren und Ausflügen steckt ihnen noch im Blut, egal wieviel Zeit verstrich. Sylvia Pein-Dethloff hat jahrelang einen Rundbrief geschrieben, aber alles passierte „ohne großes Drumrum“. Die Jahre gingen ins Land.
„Wenn wir alle 50 werden, dann machen wir eine Reise und fliegen nach Mallorca!“ So lautete der Plan einige Jahre später. Auch das hat geklappt. Wer mal zusammen im Zelt und auf dem Heuboden geschlafen hat, verträgt sich auch in einer Ferienwohnung auf „Malle“. Die Frühaufsteher machten Frühstück, die Nachtschwärmerinnen brachten vor dem Schlafen die Wohnung in Ordnung – dazu brauchte es keine Regeln, kein Drumrum.
Natürlich sind alle älter geworden. „Ich erinnere mich an ein Treffen, da holten auf einmal alle gleichzeitig die Lesebrille raus“, erinnert sich Martina May. Vor acht Jahren gab es sogar nochmal einen „Mädelsabend“, am Abend vor der bislang letzten Hochzeit im Kreis. In dieser Runde herrscht eine Vertrautheit, wie sie nur nach vielen gemeinsamen Jahren und vielen durchstandenen Abenteuern möglich ist. „Und wo sonst komme ich mit einer Gruppe zusammen, die alle dasselbe Alter haben – und nur Frauen?“ fragt Kathrin Hettwer.
Bei vielen sind die Haare grau geworden. Die alten Pfadi-Tage sind längst vorbei. Oder doch nicht? Immer noch haben die Mädchen den Hut und die Kluft im Schrank. Die alten Liederbücher werden wie Schätze gehütet. Diese Notizhefte, wo sämtliche Liedtexte handgeschrieben in Schönschrift stehen, darüber die Gitarrenakkorde, sehen noch aus wie neu. Und jederzeit könnten alle die Gitarre herausholen und in die Saiten greifen. „Pfadfinder ohne Gitarre, das geht gar nicht.“